Marburg, 18.07.2019: Der verschollene Deutsche nach 25 Jahren

Der verschollene Deutsche nach 25 Jahren. Das pazifistische Erbe von Nuto Revelli
Nuto Revelli (Cuneo, 1919-2004) erzählt in seinen Büchern von den moralischen Sorgen einer ganzen Generation, die auch die seine war, und die unter dem Faschismus aufwuchs, als man nicht denken oder kritisieren durfte. Man konnte nur gehorchen und sich mit der Lage abfinden. Als er 1942 als Unterleutnant der Alpini freiwillig nach Russland fuhr, erlebte Revelli den Untergang der italienischen ARMIR und nahm an dem katastrophalen Rückzug der besiegten Truppen der Achse teil. Während der Wochen des Rückzugs fing er an, den Faschismus und die Deutschen tief zu hassen, obwohl er dem faschistischen Regime als junger Mann mit Begeisterung beigetreten war. Er kehrte nach Italien zurück und erlebte die Katastrophen vom 25.07. und 08.09.1943, die ihn in der Notwendigkeit überzeugten, in die Berge zu gehen, also in den Widerstand, und gegen die Faschisten und die deutschen Besatzer zu kämpfen. Er trat in die Bande Italia libera ein, die unter anderem von Dante Livio Bianco und Duccio Galimberti geführt wurde. Schnell wurde er zum militärischen Führer der 4. Bande, die später Brigade „Carlo Rosselli“ genannt wurde. Bei einem Motorradunfall im September 1944, der u.a. sein Gesicht zerstörte, verletzte sich Nuto schwer. In Paris unterzog sich Revelli acht Operationen und konnte schließlich im April 1945 seine Brigade wieder erreichen, um Cuneo zu befreien.
Nach dem Krieg ließ er sein antifaschistisches Engagement durch Literatur erneut aufleben. Sein erstes Buch Mai tardi (1946 und neu aufgelegt 1967) bietet ein realistisches und antirhetorisches Bild des Russlandfeldzuges. Die Sprache von Mai tardi verdeutlicht die Stimmen der Soldaten und zeigt mündliche Äußerungen, Sarkasmus, Dialekt und Schmährede auf. In seinem zweiten Werk, La guerra dei poveri (1962), schildert er zweierlei Erfahrungen: einerseits die des Krieges, andererseits die des Widerstands. Die Entwicklung des Autors von seiner jugendlichen Begeisterung für den Faschismus hin zu seiner Partisanenwahl vom 08.09.1943 wird beleuchtet.
Nach 1962 fang Revelli an, sich einer neuen Forschungsrichtung zu widmen. Nachdem er seinen Krieg und seinen Widerstand beschrieben hatte, erweiterte sich sein Diskurs insofern, dass er die Erfahrungen „der Anderen“, der einfachen Soldaten, der Bauern und der Gebirgsleute, die in den Krieg geschickt wurden, um sinnlos zu sterben, einschloss. Das Thema Krieg blieb noch zentral, aber die Perspektive war jetzt eine andere. Er wollte den Krieg der „Armen“ schildern bzw. jener, deren Erfahrung nie erzählt worden war. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit auf die Veteranen Russlands, viele von denen nach dem Krieg am Rand der Gesellschaft lebten. Die italienische Gesellschaft, betrunken vom Wohlergehen und sich danach sehnend, die Vergangenheit zu vergessen und durch das Wirtschaftswunder so viel Reichtum wie möglich zu erlangen, ignorierte die Existenz des Elends und der Marginalisierung, die in den armen Regionen existierten. Revelli spürte vierzig Veteranen sowjetischer Gefangenschaft auf, sammelte ihre dramatischen Zeugnisse und veröffentlichte sie im Buch La strada del davai (1966), einem Werk, das den Krieg der „armen Christen“ „von unten“ erzählte.
Als er diese Männer traf, betrat er zum ersten Mal die Bauernhäuser und entdeckte, dass in fast jedem Bauernhaus das Briefbündel eines im Krieg verschwundenen Sohnes, Bruders oder Ehemannes aufbewahrt wurde. Ein zweiter Forschungsschwerpunkt bildete sich heraus, der zur Veröffentlichung des Buchs L’ultimo fronte (1971) führte, einer Anthologie von 1.300 Briefen von Soldaten (aber zehntausend waren es, die er gesammelt hatte!), eine wertvolle Dokumentation, die die Beziehung zwischen der bäuerlichen Bevölkerung und dem Krieg darstellte.
Ein wichtiger Aspekt dieser Forschung war die Reflexion über das Problem der „Vermissten“. Die Figur des „Vermissten“ war eine echte Obsession für Revelli und war vielleicht einer der zentralen Aspekte seines Nachkriegstraumas. In Russland hatte er während des Rückzugs Hunderte von Soldaten gesehen, die erschöpft im Schnee auf der Strecke zurückgeblieben waren. Er selbst musste viele Verwundete aufgeben, weil sie nicht abtransportiert werden konnten. Und er wusste genau, dass die Gefahr, verloren zu gehen, auch ihn selbst getroffen hatte. Seine Soldaten hatten ihm geholfen, indem sie ihn zusammen mit anderen Verwundeten auf einen Schlitten legten und ihm so das Leben gerettet haben. Der Zustand der „Vermissten“ war für Revelli erschreckend. Wenn ein Soldat für vermisst erklärt wird, wissen die Angehörigen nicht, ob er noch lebt oder tot ist. So hören sie nicht auf zu hoffen, dass er eines Tages nach Hause zurückkehren wird. Revelli wusste daher, dass die „Vermissten“ das schlimmste Erbe des Krieges sind.
Der Dialog mit der bäuerlichen Welt begann schließlich, und der Schriftsteller verstand, dass zusammen mit dem Thema Krieg auch andere Gegenstände wie z.B. Arbeit, Familie, soziale Praktiken, Auswanderung, Hunger und Armut in den Gesprächen auftauchten. Um diesen Reichtum des bäuerlichen Lebens zu sammeln, erkundete er jahrelang die gesamte Provinz Cuneo und führte über fünfhundert mündliche Interviews durch, die teilweise in die Bände Il mondo dei vinti (1977) und L’anello forte (1985) eingingen. Aus dieser langen und geduldigen Arbeit entstand das Porträt (oder Selbstporträt) der armen Landschaft: Diese war eine geschlossene Welt, derer kulturelle Vorbilder und Traditionen, deren Erbe, Wissen und Arbeitstechniken fast nur noch in den Worten der Dialekte überlebten.
Revelli ignorierte weder die reiche Landschaft noch wertete er die Verbreitung des Wohlstands ab. Er beobachtete jedoch die Auswirkungen der hektischen Modernisierung Italiens mit Sorge und Argwohn, denn während ein Teil der Bevölkerung reicher und zu einer neuen Gesellschaft des Konsums und des Konsens wurde, blieb ein weiterer, sehr großer Teil (Bauern, Bergbewohner, Handwerker) arm. Dieser Teil war von den Vorteilen der Moderne und der wirtschaftlichen Entwicklung abgeschnitten, ohne grundlegende Infrastruktur, und wurde vor eine harte Entscheidung gestellt: entweder das Land verlassen und in der Fabrik arbeiten, oder auf seinem eigenen Land in Armut leben, da es zu klein, unfruchtbar oder unzugänglich war und so wirtschaftlich nicht genutzt werden konnte. Revelli hatte sich diesen Teil der Gesellschaft angeschaut und erkannt, dass diese armen Bauern dieselben waren, die er bereits in Russland gesehen hatte, von ihrem Boden gerissen, um als Soldaten in einen Krieg zu ziehen, den sie nicht wollten und nicht verstanden. Viele von ihnen waren schon alt und gebrechlich. Selbst wenn sie wollten, hätten sie sich auf dem Markt der neuen Wirtschaft nicht durchsetzen oder integrieren können, weil sie nicht die Kraft hatten, in der Fabrik mit zermürbenden Schichten und dem Pendeln zwischen ihrem Dorf und der Stadt zu arbeiten. So wollte Revelli diesen Italienern das Wort erteilen, die nie gesprochen hatten, aber immer den höheren Preis für die „Größe“ der Nation bezahlt hatten: mit Krieg, Armut und Emigration.
Nach 25 Jahren des Dialogs mit den Bauern verstand Revelli in den 1980er Jahren, dass diese Welt aus ihrem „Minderheitenstatus“ herausgekommen war, zum Teil durch die Möglichkeiten der Modernisierung, die von der Industrie geboten wurden, zum Teil durch die Herbeiführung eines Mentalitätswandels bei den jungen Männern und Frauen, die beschlossen hatten, die Bindungen an die Tradition zu knüpfen, die kulturelle Identität aufs Spiel zu setzen und sich gleichzeitig weigerten, ein Leben des Elends wie das ihrer Eltern und Großeltern zu wiederholen. Revelli näherte sich dieser komplexen sozio-anthropologischen Forschung als Autodidakt und ohne jegliches akademisches Vorwissen. Da er als Metallverkäufer arbeitete, widmete er seine Freizeit der Forschung und fuhr durch das ganze Land und ins Gebirge, um Bauern zu treffen. Er war also ein Pionier der „oral history“ in Italien, und seine Lehre ist für die historische Methodologie noch heute von großer Bedeutung.
Dann, Mitte der 1980er Jahre, änderte sich sein Interesse abrupt, als er zufällig von einem Bauern die seltsame Geschichte eines deutschen Soldaten erfuhr, der 1944 von sich reden gemacht hatte, weil er als „guter Deutscher“ galt. Eines Tages verschwand er und hinterließ nur das Echo einer Legende. Die Geister der Vergangenheit tauchten plötzlich wieder auf: der Krieg, die verhassten Deutschen, Russland, die Gewalt. Der Schriftsteller misstraute der Legende des „guten Deutschen“, aber ein Zweifel machte sich bemerkbar. Wenn es wahr gewesen wäre, dass nicht alle Deutschen Kriegsverbrecher gewesen wären, dann würde es sich vielleicht lohnen, mehr zu wissen, auch, um das antideutsche Vorurteil loszuwerden, das wie alle Formen des Hasses auf einen Feind eine echte Gefangenschaft war. Zehn Jahre später, am Ende der langen Forschung, die sich der Identität dieses „einsamen Reiters“ widmete, veröffentlichte Revelli Il disperso di Marburg (Der verschollene Deutsche) (1994), sein größter Verkaufserfolg, der als ein Akt der Freundschaft und Versöhnung zwischen zwei einst durch Hass gespaltenen Völkern gepriesen wurde. Autobiographie, „oral history“ und traditionelle Historiographie liegen in der Gattung Tagebuch, die Revelli für seinen Bericht wählt, eng beieinander. Auf diese Weise kann er die Fortschritte einer begeisternden Nachforschung erzählten.
Am Ende der neunziger Jahre veröffentlichte Revelli weitere zwei Bücher: Il prete giusto (1998) behandelt die Lebensgeschichte von Don Raimondo Viale, einem nonkonformistischen und antifaschistischen Priester, der nach dem Prinzip der Freiheit und des Widerstehens lebte; und Le due guerre (2002), ein autobiographischer Essay, in dem Revelli seine persönliche Entwicklung vom Faschismus zum Widerstand erzählte.
Der verschollene Deutsche ist das Buch, mit dem es Revelli gelang, sowohl in Italien als auch im Ausland bekannt zu werden. Es war sein erstes Buch, das ins Deutsche übersetzt wurde.
Die 1990er Jahre begannen mit der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Golfkrieg. In Italien brach der Skandal von „Mani pulite“ (1992) aus, wodurch die alte politische Klasse gestürzt wurde. Davon profitierte Silvio Berlusconi, ein populistischer Unternehmer, der die politischen Institutionen nutzte, um seine eigenen Interessen zu verfolgen. Dies waren auch die Jahre des Revisionismus, weil unter den Regierungen von Berlusconi der Faschismus wieder auflebte.
Die Erinnerung an die Resistenza durchlief eine schwere Krise, und als die Welle des Neofaschismus in Italien wuchs, wurden die moralischen und politischen Werte des Partisanenkriegs (aus dem die republikanische Verfassung abgeleitet wurde) für die jüngeren Generationen immer abstrakter und weniger greifbar. In diesen Jahren versuchte Revelli, die Erinnerung an den Widerstand vor Vergessenheit und Manipulation zu verteidigen. Unter dem revolutionären Licht, das Claudio Pavone mit seinem Buch Una guerra civile (1991) auf die Moralität in dem Widerstand geworfen hatte, wollte Revelli jetzt seine eigenen Erinnerungen an den Partisanenkrieg hervorbringen, um die Frage nach der Feindschaft erneut zu stellen.
Nach jahrelanger Forschung über den Untergang der traditionellen Bauernkultur kehrte Revelli durch die Geschichte des verschollenen Wehrmachtsoldaten zum Thema „Krieg“ zurück. Zu Beginn der 1980er Jahre, als er die Lebensgeschichten der Bauern notierte, erzählte ein ehemaliger Partisan die ungewöhnliche Legende von einem „einsamen Reiter“.
Anscheinend gehört der „einsame Reiter“ eher der Welt der Märchen als der Welt der Geschichten an. Trotzdem war es nicht einfach, die Legende von der Realität zu unterschieden. Jahrelang versuchte Revelli, nicht mehr an diese Geschichte zu denken, obwohl ihr seltsamer Protagonist in seinem Kopf und seinen Gedanken blieb und ihn zwang, immer wieder über den Krieg nachzudenken.
Die Idee vom „guten Deutschen“ war unheimlich, weil dieses Bild sich mit dem Bild des Feindes überlappen konnte. Solch schlechte Gesinnung gegenüber den Deutschen war über die Jahre zu einer Obsession geworden. Zudem beleuchtete die Legende die dramatische Frage der „Vermissten“, weil ihre Lage „wirklich das grausamste Erbe jedes Krieges“ ist (42). Der „Vermisste“, egal ob Deutscher, Pole oder Russe, nahm schnell einen „Symbolwert“ an (41). Ein „Vermisster“ bleibt immer ein Besiegter. Der verhasste Feind wurde in der Gestalt des „Vermissten“ schrittweise wieder als Mensch anerkannt: „Ich habe mit den Deutschen überhaupt kein Mitleid. Aber wenn es auch nur einen Deutschen gab, der von dem Bild abwich, das ich mir von ihnen gemacht hatte, dann will ich seine Geschichte kennen“ (46). Trotzdem bleibt die Erinnerung an die deutschen Verbrechen immer präsent: „Ich betrachte das Tor, hinter dem die SS Peipers mit dem Flammenwerfer Antonio Vassallo und Giuseppe Bernardi, den Pfarrer von Boves, bei lebendigem Leib verbrannt hat. Und wiederum frage ich mich, ob es einen Sinn hat zu glauben, dass es einen ‚guten Deutschen‘ gegeben habe“ (47).
Die Legende des „guten Deutschen“ widersprach solcher grausamen Erinnerung. Der „einsame Reiter“ konnte wahrscheinlich ein guter Mensch sein bzw. ein Junge, der vom Krieg die Nase voll hatte. Revelli konnte sich in dessen Lage hineinversetzen und ihn sich als einen jungen Mann vorstellen, der „aber schon vom Krieg gezeichnet, schon ‚innerlich‘ müde wie ein Besiegter“ (13) war, genau wie er es selber nach den Erfahrungen in Russland gewesen war. Zum Schluss fing der Schriftsteller an, daran zu glauben, dass etwas Wahres in der Legende stecken musste: „Schon seit einiger Zeit habe ich mir in den Kopf gesetzt, dass der ‚Vermisste‘ ein deutscher Offizier um die zwanzig war […]. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass dieser zwanzigjährige Offizier weder ein Dummkopf noch ein Draufgänger war, sondern einer, der im Krieg schon zuviel erlebt hatte und deshalb dazu neigte, die Situation als nicht besonders dramatisch einzuschätzen“ (38-39).
Durch die Identifikation mit dem „Vermissten“ sowie durch das folgende Mitleid gegenüber seinem absurden Schicksal kommt die Erzählung zu einem deutlichen und reifen Antimilitarismus. Dieses Buch ist auch ein Versuch, die Erinnerung an die grausame Realität des Krieges durch die Imagination, die den „Vermissten“ als einen lebenslustigen Jungen schildert, zu mildern: „Anfangs war er nur bis Tetto Graglia geritten und hatte die Via Bodina nicht verlassen. Dann aber hatte er sich weiter gewagt, bis zur Kapelle der Crocetta an der Grenze zwischen Cuneo und Borgo San Dalmazzo. Aber der Streifen zwischen der Hochebene und dem Gesso zog ihn wie ein Magnet an. Dort waren keine Felder, so dass man dem Pferd freien Lauf lassen konnte. Weil dort keine Bäume standen, konnte man das Panorama der Berge in seiner ganzen großartigen Schönheit voll genießen“ (39-40). In der Tat ist überhaupt der Imagination freier Lauf gelassen, weil der junge Offizier schließlich getötet wurde, was eine sehr traurige Wahrheit ist.
1987 war das Jahr der Lemberg-Kommission, in deren Arbeit Revelli bis März 1988 als Berater miteingebunden wurde. 1987 lernte Revelli auch den deutschen Rechtshistoriker Christoph Schminck-Gustavus bei einem Kongress in Turin kennen. Christoph, der zu jener Zeit über die deutschen Kriegsverbrechen in Griechenland forschte, hatte Revelli später geholfen, mit den deutschen Militärarchiven Kontakt aufzunehmen, wo die Lösung des Rätsels vom „Vermissten“ lag. Und, viel wichtiger, eine lange und tiefe Freundschaft zwischen diesen Männern entstand.
Durch Christophs Hilfe konnte Revelli sich mit verschiedenen deutschen Militärarchiven in Verbindung setzten, obwohl das Unterfangen absolut hoffnungslos schien. Tatsächlich antworteten ihm die Beamten aus Berlin, dass 23 Millionen Personalkarten, ca. 150 Millionen Verlustmeldungen und 100 Millionen namentliche Meldungen da lagen, „namentlich nach Geburtsdaten geordnet“ (67). Der einzige Weg zur Wahrheit war „oral history“. Christoph empfahl Nuto, seine eigenen Erinnerungen mit denen der Zeitzeugen zu vermischen, so dass er sich ein genaueres Bild des Kontexts machen sowie die Atmosphäre des Partisanenkriegs wieder evozieren könnte.
1990 gingen aus der Kombination der mündlichen Quellen und den Dokumenten aus den deutschen Militärarchiven erste Ergebnisse hervor. Mit der Hilfe von Christoph und anderen Mitarbeitern (unter anderen Michele Calandri in Cuneo und Carlo Gentile in Köln) begrenzte sich die Forschung schließlich auf einen deutschen Offizier vom Ostbataillon 617 im Frühling-Sommer 1944. Am 17.06.1991 schrieb Carlo Gentile, dass er die lang erwartete Spur in den Vermissten-Listen des Deutschen Roten Kreuzes gefunden hatte.
Am 23.09.1991 kam die Bestätigung aus Aachen, dass der von Carlo Gentile bezeichnete „Vermisste“ wirklich Rudolf Knaut aus Marburg war. Die Entdeckung war aus zwei Gründen wichtig. Erstens, weil die Archive einen zuverlässigen Weg zur Lösung des Rätsels in einer Zeit des Stillstands eröffnet hatten. Noch wichtiger ist allerdings der zweite Grund, denn in Marburg, wo Rudolf Knaut Rechtswissenschaften an der Universität studiert hatte, gibt es ein wichtiges Institut für Romanistik, wo damals Professor Bodo Guthmüller arbeitete. Dem Netzwerk der Vermittler Christoph, Carlo und Michele schloss sich der Italianist aus Marburg an, der Revelli 1993 einlud, nach Marburg zu kommen, die Studenten zu treffen und über diesen Jungen zu sprechen, der viele Jahre zuvor im Krieg gestorben war. Natürlich hat Bodo Guthmüller auch an der Forschung mitgewirkt, Rudolf Knauts Freunde und Verwandte aufzufinden, um seinen Hintergrund, seinen Charakter und seine Orientierung im Krieg zu rekonstruieren.
Rudolf war nicht Mitglied der NSDAP. Er war nur einer der vielen deutschen Jungen, die der Krieg fortgerissen hatte. Einige von Guthmüller gefundene Zeitzeugen sagten, dass er vom Krieg nicht begeistert, unpolitisch, „nicht sehr sportlich und der NSDAP gegenüber skeptisch eingestellt“ war. Wie Revelli hatte auch Rudolf Knaut in Russland gekämpft, wo sein älterer Bruder Wilhelm am 25.07.1943 gefallen war. Rudolf war anscheinend weder ein Held noch ein Verbrecher, sondern, so schrieb Carlo Gentile, „Offizier bei einem Bataillon, das ausschließlich zur Partisanenbekämpfung, und das heißt: auch gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt wurde. […] Auch er war ein Rädchen in der großen Kriegsmaschinerie der Nazis“ (171). Revelli erkannte an, dass Carlo „sehr viel Wahres“ schrieb. Man konnte nicht ausschließen, dass Rudolf „kein guter Mensch“ war, aber man konnte auch ohne eindeutige Beweise nicht behaupten, dass er schlecht war. Obwohl die Legende seiner Erinnerung an die „deutschen Bestien“ widersprach, wollte Revelli diesmal lieber noch „mit offenen Augen träumen“ (172). Dem stimmte auch Christoph zu, als er den Schriftsteller ermahnte, die ganze Forschung in ein Buch zu fassen.
Am Ende war die Legende des „einsamen Reiters“ nur ein Mythos: Die Gestalt solch eines Menschen, „der die Kinder streichelt und in seiner Freizeit Bach spielt, löst sich in nichts auf – so Christoph –. Realistischer dagegen scheint mir inzwischen die These, dass Rudolf Patrouille ritt. Besser den Tatsachen ins Gesicht sehen, als den Vorstellungen in unseren Köpfen nachhängen. Was aber tun wir ohne diese Vorstellungen?“ (187). Christophs Worte scheinen zu sagen, dass man aus bloßer Realität stirbt. Ich füge hinzu, dass kein Mythos unhistorisch bzw. falsch ist. Mythen sind Erzählungen, durch die man die Realität mit Sinn erfüllt. Die Arbeit des Historikers endet nicht, wo sich Fakten und Dokumente überlappen. Die Pflicht des Historikers berührt auch die Moralität der Geschichte. Der verschollene Deutsche ist deshalb auch und vor allem eine Meta-Erzählung, die die Moralität der Geschichte in Frage stellt. Revelli fand in der Gattung Tagebuch die ideale Weise, seine Spurenforschung zu erzählen, weil die tägliche Entwicklung der Forschung hier mit Dialog, Reflektion und Autobiographie vermischt wird. Das Tagebuch ist nicht nur eine Literaturgattung, sondern eine Weise des kritischen Nachdenkens.
Das Buch endet mit der symbolischen Bestattung Rudolfs. Danach bleibt ein seltsames Gefühl, das Revelli durch ein Bild ausdrückt: „Ein Bild ist mir im Gedächtnis hängengeblieben, das alle anderen zusammenfasst und in sich enthält. Immer wenn ich mir die Ereignisse von San Rocco vergegenwärtige, sehe ich vor mir den weißen Fetzen von Rudolfs Unterhemd, den das Hochwasser nicht mitgerissen hat, wie ein Symbol eines grausamen Schicksals, eines vergeudeten Lebens, des Scheiterns“ (196). Ein Besiegter ist auch ein „nackter Mensch“, der verdient, bemitleidet zu werden.
Sicherlich ist es nicht einfach, wie aus dem Dialog zwischen Revelli und Renzo, dem Partisanen, der am 14. Juni 1944 mit seinem Patrouillenmann Rudolf Knaut überraschte und ihn tötete, hervorgeht:
– Wie denken Sie heute, fast fünfzig Jahre später, über diese Begebenheiten?
– RENZO: Ich war noch nicht einmal zwanzig, der älteste von uns war Andrea mit seinen zweiundzwanzig Jahren. Wir waren jung. Das Schicksal wollte es, dass wir auf diesen Deutschen stießen. In diesen Augenblicken ist es schwierig zu entscheiden, ob man töten soll oder nicht. Für mich waren die Deutschen alle gleich. Nach dem 8. September hatten sie den Bruder meines Vaters umgebracht, sie haben die schlimmsten Dinge getan, und wenn sie einen von uns erwischten, wurde er aufgehängt. Die Deutschen… Viele wurden vielleicht gezwungen, brutal zu sein, sie mussten Befehle ausführen. Heute hasse ich sie nicht mehr. Aber ich vergebe ihnen nicht. (128)
Die alten Griechen glaubten, dass ein unbegrabener Mensch dazu verurteilt war, nicht in die Unterwelt hineintreten zu dürfen. Unbegraben zu bleiben heißt, wie ein Gespenst hoffnungslos zwischen der Welt der Lebendigen und der Unterwelt zu wandern, ohne Frieden und allein. Das Schicksal eines „Vermissten“ scheint nicht deutlich anders zu sein. Den besiegten Feind zu bemitleiden heißt nicht, die Grausamkeit und die Verbrechen der Vergangenheit zu vergessen, sondern zu verstehen, dass Hass ein Gefängnis ist, aus dem man nur sehr schwer herauskommt. Mitleid überwiegt über alle Vorurteile und Überzeugungen, als Revelli den Brief bekam, den Hauptmann Lemberg an Rudolfs Eltern geschickt hatte, um das Verschwinden ihres Sohnes mitzuteilen.
Wie der Philosoph Emmanuel Lévinas schrieb, ist das menschliche Gesicht der unzerstörbare Kern der Menschheit. Als Revelli das Bild Rudolfs bekam, erlebte er das befreiende Gefühl der Versöhnung: „Lange betrachte ich das Photo von Rudolf und bin tief bewegt. In einer Schlacht zu sterben, gehört zur Realität des Krieges, der man ins Auge sehen muss; im Krieg trägt man zwei Beutel bei sich – einen zum Austeilen, einem zum Einstecken. Aber zu sterben, wenn man es am wenigsten erwartet, in einer Umgebung, die mehr nach Frieden als nach Krieg aussah, ist wirklich ein grausamer Streich des Schicksals. Wie dumm und absurd ist doch der Krieg!“ (155) Ja, ein Freund von Revelli fügte hinzu: Die Geschichte von Rudolf Knaut war „eine Geschichte von so viel Leid“ (170).
Dieses Buch ist am Ende auch die Geschichte einer merkwürdigen Freundschaft. Alle Geschichten, so Aristoteles, haben einen Anfang, eine Entwicklung und einen Schluss. Revelli, der Protagonist dieser Erzählung, gelangt aus einer Gefangenschaft (er ist gefangen in seinem Hass gegen die Deutschen) in die Freiheit (die Anerkennung der Menschlichkeit des Feindes). Bemerkenswert ist, dass Revelli den ersten Versuch unternommen hat, sich mit der Vergangenheit und mit den Deutschen zu versöhnen, indem er sich mit einem ehemaligen Wehrmachtsoffizier in Verbindung setzte, der in dem Buch unter dem Pseudonym „Karl“ versteckt ist, den Revelli während einer Debatte kennengelernt hatte und dem er die Geschichte des „Vermissten“ erzählt hatte. Ihr Dialog wird jedoch nach einem ersten gemeinsamen Versuch, Erinnerungen an die Vergangenheit zu teilen, zusammenbrechen: „Wir gehören beide der Generation der ‚anni ruggenti‘ an, und deshalb gestaltet sich der Dialog zwischen uns vielleicht schwieriger als erwartet. Ich hatte gehofft, wir könnten Freunde werden“ (176).
Wenige Jahre nach der Veröffentlichung des Buches erzählte Revelli in einem Interview, dass seine Reise nach Marburg 1994 ein doppeltes Ergebnis gehabt hatte. Das Vormittagstreffen mit den Studenten von Bodo Guthmüller war anregend und fruchtbar gewesen. Die jungen Leute waren neugierig und interessiert, offen; sie hatten viele Fragen gestellt. Am Abend jedoch, als der Schriftsteller in einem Literaturcafé auf ein breiteres Publikum gestoßen war, verlief es anders. Es gab mehrere Leute im gleichen Alter wie Revelli und der Dialog war angespannt, zurückhaltend gewesen. Bei einigen unbequemen Themen hatte die Diskussion noch nicht begonnen. Frieden ist ein kostbares Gut, aber kein erworbenes Recht. Frieden ist das Ergebnis eines langen Prozesses der Zusammenarbeit, Konfrontation und Selbstkritik, und manchmal kann die Kriegserzählung paradoxerweise ein grundlegendes Mittel sein, um diesen Prozess zu erreichen.
Ich bedanke mich herzlich bei Herrn Prof. Olaf Müller und Herrn Lucas Heinisch der Philipps-Universität Marburg sowie Herrn Manfred Paulsen. Ein herzlicher Dank geht auch an das Institut für Romanische Philologie der Philipps-Universität Marburg, and den Kulturelle Aktion Marburg – Strömungen e.V., Il Ponte (deutsch-italienischer Verein Marburg) und and den Marburger Literaturforum e.V.